Schlaflose Tage – Orientierung durch Literatur (Vortragsreihe "Kritik und Bildung – wie Orientierung entsteht")
Kostenfrei
Vortragsreihe "Kritik und Bildung – wie Orientierung entsteht" an der Hochschule Konstanz
Die Vortragsreihe wendet sich ausdrücklich an ein Publikum ohne Vorkenntnisse in Philosophie, Ideen- oder Kulturgeschich -te, hat also einführenden Charakter.
Veranstaltungsdetails
Öffentlicher Vortrag von Prof. Dr. phil. Martin Hielscher, Publizist, Lektor; München
Der paradoxe Titel von Jurek Beckers Roman »Schlaflose Tage« (1978) kann so verstanden werden, dass unser waches Leben am Tage oftmals keines ist. Das sogenannte Leben – die Gefahr ist groß, es durch zu viel Alltag und Routine zu versäumen, die Gefahr ist aber ebenso groß, unsere Lebensgrundlagen gleich ganz zu verspielen. Wachsein und das Bewusstsein und ein Gefühl dafür, dass die Welt den Menschen gemeinsam über -antwortet ist, dass uns Menschen gar nicht so viel voneinander trennt – nichts vermittelt diese Einsicht und Erfahrung so sehr wie die Literatur, die Liebe und das Reisen. Und Literatur ist Liebe, Empathie und ein Buch immer auch eine Reise.
Was die (deutsche) Geschichte an Verhängnissen bereithält und wie man sich daraus hervorarbeitet, das hat der Schriftsteller, spätere Pazifist und Revolutionär Ernst Toller in seinem autobiographischen Roman »Eine Jugend in Deutschland« (1933) beispielhaft beschrieben. Wie man sich aus schwierigen familiären Verhältnissen schreibend befreit, erzählt Judith Hermann anrührend in ihrem Buch »Wir hätten uns alles gesagt« (2023), über Aufstieg, Macht und langes Überleben unter schwierigsten politischen Verhältnissen kann man kaum mehr erfahren als in Hilary Mantels enorm spannender Trilogie »Wölfe«, »Falken« und »Spiegel und Licht« (deutsch 2010 bis 2020) und über die Liebe alles in Marcel Prousts großartigem Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« (deutsch 1974 ff.). Wie eine ruchlose Clique aus der Finanzwelt die halbe Welt in Bedrängnis bringen kann und was ihnen dann doch blüht, das erzählt Jonas Lüscher mit schwarzem Humor in seiner Novelle »Frühling der Barbaren« (2013) und von Deportation und Überleben Imre Kertész in »Roman eines Schicksallosen« (1975). Ganz ähnlich die aktuelle Nobelpreisträgerin Han Kang in »Menschenwerk« (2014).
Und weil Jugend und Pubertät Zeiten des Aufbruchs und der Entdeckung, des intensivsten Lebens und vielleicht auch süch-tigsten Lesens sind, der Gefahr und der Wandlung kann einen die Lektüre von Peter Weiss »Abschied von den Eltern« (1961), »Jugend« von Wolfgang Koeppen (1976), »Wildlife – Wild leben« von Richard Ford (1991) und »Café Saratoga« von Malin Schwerdtfeger (2001) immer noch berühren, begeistern und umwerfen.
Martin Hielscher studierte deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie in Hamburg; Promotion über Wolfgang Koeppen. Mehr als 30 Jahre lang war er als Verlags lektor tätig, die längste Zeit für den Verlag C. H. Beck als Leiter des in ternationalen Belletristikprogramms. Zudem ist er Literatur kritiker, Redakteur, Übersetzer, Lehrer für kreatives Schreiben und Universitätsdozent und Honorarprofessor im Fach Literaturvermittlung an der Universität Bamberg. Er hat u. a. Bücher über Wolfgang Koeppen und Uwe Timm veröffentlicht und Romane von William Gaddis und Richard Ford übersetzt.
Vortragsreihe "Kritik und Bildung – wie Orientierung entsteht":
Kritik ist seit der griechischen Antike Wert und Methode zugleich und dürfte ein Grund baustein von Bildung sein. Bil dung ist bekanntlich mehr als das Verfügen über Fach wissen, und sie erschöpft sich nicht in beruflicher Kompetenz. Bildung solle, so wird oft vermutet, dem Menschen dabei helfen, seine Persön lichkeit zu entwickeln und zu gestalten, seinen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten und ihm gar Orientierungs wissen an die Hand geben. Selbstredend sind basale Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen Voraussetzung im Erwerb von Bildung. Was aber gehörte schon immer und was gehörte in unseren Tagen dazu? Was sollte man lernen, können, wissen, um Kritik nutzen und üben zu können? Sollte man über rhetorisches Wissen und Fähigkeiten verfügen, gar logisch denken und argumentieren können? Diesen und weiteren Fragen wird die Vortragsreihe nachgehen.
Die Vortragsreihe wendet sich ausdrücklich an ein Publikum ohne geistes- oder sozialwissenschaftliche Vorkenntnisse, hat also einführenden Charakter.